Montag, 21. März 2022

Neue Aspekte im Besucherverhalten

Seit über 20 Jahren führe ich Menschen durch Museen hauptsächlich in den USA und Deutschland. Noch nie habe ich so einen so großen Wandel im Besucherverhalten wie jetzt während der Pandemie erlebt. Nach Monaten in der Abgeschiedenheit, in der jeder seinen oftmals sehr spezifischen eigenen Interessen zu Hause und online nachgehen konnte, wissen die Besucher:innen scheinbar sehr viel genauer, was sie von einem Ausstellungsbesuch erwarten und artikulieren dies auch deutlich.

An Thanksgiving war ich im Art Institute in Chicago. Und da waren sie, die Instagram-Mädchen: rein in die zeitgenössische Abteilung für ein Foto mit einer Skulptur und schnell wieder raus. Zurück in Deutschland hat mich zum ersten Mal eine Rentnergruppe vor dem Ausstellungsbesuch angerufen: Bei Nolde bitte nichts Politisches! Wir wollen die Kunst genießen! Führe ich Student:innen durch dieselbe Ausstellung: Bitte unbedingt die politische Vergangenheit von Nolde erläutern, sonst hat der Künstler für uns wenig Relevanz!

Es ist kein Wunder, dass die Interessen und Ansprüche an ein Kulturerlebnis immer individueller werden. Unser digitales Leben ist durch Zielgruppen spezifische Kommunikation geprägt, für jedes Nischeninteresse gibt es eine online Community. Diese unverzögerte und individualisierte Ansprache, diese Zugehörigkeit suchen wir dann auch offline wieder. Nicht nur in der Kommunikation, auch in den Erlebnissen, die uns präsentiert werden.

Um den Spagat zwischen den verschiedenen Interessensgruppen zu schaffen ist es nicht nur nötig, vielfältige Angebote zu präsentieren, sondern vor allem sich als Institution eindeutig zu positionieren und Ziele klar zu kommunizieren. Die Spanne reicht vom Ansatz, die Besucher:innen willentlich sich selbst zu überlassen. Die Beschilderung wird auf minimale Informationen reduziert und Erläuterungen zugunsten eines von den Besucher:innen selbstbestimmten Erkenntnisgewinns weggelassen (z.B. Glenstone (Museum), Potomac, MD). Aber auch dahinter verbirgt sich eine Absicht, die nicht frei von der Sammlungsgeschichte oder der Zusammenstellung der Werke ist. Sollte der Kontext mit Blick auf Bildung, Zugang und Transparenz nicht erläutert werden? Auf der anderen Seite steht eine Didaktik, die z.B. durch geführte Besuchserlebnisse auf eine bestimmte Erkenntnis abzielt, die als die Richtige gilt. Dazwischen gibt es eine Bandbreite von Besuchserlebnissen, die sich ehrlich um die Einbindung der Besucher:innen bemühen. Tatsächlich kann alles glaubhaft in derselben Institution stattfinden, wenn es klar kommuniziert wird.

Nach meinem Eindruck kommen die Besucher:innen nicht nur wieder zu Ausstellungen, Konzerten und Aufführungen, um die Aura der Werke zu erfahren, die sich im Zeitalter der Reproduktion nicht immer gut auf den eigenen Bildschirm übersetzen lässt, sondern vor allem auch um ein soziales Erlebnis zu erfahren. Und dieses lässt sich nicht nur in einem Miteinander im Raum sondern vor allem auch über einen Diskurs, den wir als Kulturmanager:innen lebendig gestalten, erleben.

Und einen Diskurs braucht es dringend. Das erleben wir aktuell in Deutschland und ebenso in den USA. Welches Vertrauen dabei in Museen gesetzt wird, zeigt der Wunsch aus den USA, Kindertagesstätten an Museen anzugliedern, um früh Werte von partizipativer Demokratie und Kultur zu vermitteln.

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